von Dr. Götz Heinrich Loos
Kamen. „Unendliche Weiten“: Mit dem 8. Konzert der Spielzeit 2015/16 entführte die Neue Philharmonie Westfalen das Publikum am Mittwochabend in den Weltraum. Allerdings konnte der ausgemachte Science-Fiction-Fan und Chefdirigent Rasmus Baumann dieses Konzert aus Krankheitsgründen nicht selbst leiten; Eckehard Stier sprang ein, der ja in dieser Saison schon einmal Gastdirigent war (siehe Rezension des 2. Sinfoniekonzertes).
Bei diesem Motto war eigentlich klar, dass Gustav Holsts „Die Planeten“ auf dem Spielplan stehen mussten. Aber was sonst? Es gibt zwar einiges, was passt – aber was würde hier Sinn machen? So begann das Konzert mit György Ligetis „Atmosphères“. Eingefleischte SciFi-Fans kennen das Werk aus Kubricks Filmklassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“, ganz am Anfang bei völlig schwarzem Bild (bei Fernsehausstrahlungen fällt dies allerdings in aller Regel weg). Dabei ist dieses Stück zunächst gar nicht als „Weltallmusik“ ausgelegt gewesen, sondern meinte wirklich „Luft“ – nämlich von den Musikern auf ihren Instrumenten erzeugte Geräusche, z. B. durch Anblasen der Blasinstrumente, einfache, angehaltene Töne, keine Melodie… Und doch von unglaublicher Wirkung, mag man doch manches Instrument von einer neuen Seite kennenlernen. Trotz Rechtsstreitigkeiten mit Kubrick, der das Werk benutzt hatte, ohne den Komponisten zu fragen, mochte Ligeti die Verwendung als „Weltallmusik“. Man mag sich vorstellen, in der Atmosphäre, an ihrem oberen Rand, zu schweben. Eine 1A Interpretation rundete das Bild ab. Es war bemerkenswert zu sehen, wie Dirigent Eckehard Stier die riesigen Partiturseiten umblätterte.
Von besonderem Interesse war das zweite Werk, eine Auftragskomposition, initiiert auf Ideen von Rasmus Baumann. Der britische Komponist Robin Holloway war der Auftragnehmer – er sollte sich mit den Planeten des Sonnensystems beschäftigen und dabei einen Orgelpart besonders berücksichtigen. Hier erklang dann das Werk zum dritten Mal, nach der eigentlichen Uraufführung in Gelsenkirchen am Montag und einer zweiten, am Dienstag in Recklinghausen. „For Ever Singing as they Shine“ war der Titel dieser „Concertante for Organ and Orchestra“ als op. 126 Holloways. Die Bedeutung des “Gesangs” im Titel sitzt dabei tiefer, als man auf den ersten Eindruck versteht: Natürlich, der „Klang des Universums“ ist heute ein spannendes Thema, gerade nach dem Entdecken und Hörbarmachen der Gravitationswellen au dem All. Aber hier spielt eher das frühere Verständnis der Planeten als ewig „singende“ und „tanzende“ Gebilde eine Rolle, dabei geleitet von der Sonne als „Zeremonienmeister im Mittelpunkt des orchestralen Geschehens“, wie Kerstin Schüssler-Bach im Programmheft ausführt. Bei der Planung der Komposition berücksichtigte Holloway von Anfang an die Möglichkeiten der Konzertorgel der Neuen Philharmonie Westfalen vor Ort, gemeinsam mit Rasmus Baumann und dem vorgesehenen Organisten, den im Ruhrgebiet und weit darüber hinaus berühmten Bernhard Buttmann. Zudem holte Holloway Rat bei einem noch berühmteren Kollegen einer Weltall-affinen Fakultät in Cambridge, nämlich bei Stephen Hawking, der Holloways Arbeit mit großem Interesse verfolgte. Herausgekommen ist schließlich ein höchst bemerkenswertes Stück, mit beeindruckenden sechs Sätzen – natürlich „Neue Musik“, aber – wie bei Holloway meistens – solche, die sich in kein Schema pressen lässt. Eingerahmt von einem dramatischen Urknall am Anfang, in dem sich sofort Dissonanzen in schärfster Form entladen sowie einem in der Tonfolge wortwörtlich umgekehrten Urknall am Ende, der dazu gegensätzlich helle, strahlende Farben bringt, stehen sechs Sätze: „Introduction: 9 Planets“ – von der Sonne, der Orgel, getrieben, werden in 30 Sekunden die Planeten in ihrer Reihenfolge von der Sonne nach außen (inklusive des umstrittenen Pluto) vorgestellt; dabei eben so schnell, dass man schnell den Überblick verliert, wenn man nicht im Programmheft nachliest, welcher gerade dran ist. Da nun schon ein Beamer mit Leinwand aufgebaut war (über dem Orchester), der bei Holsts Werk später jeweils den Planeten zeigte, der gerade musikalisch dran war, hätte man die Bilder auch ruhig bei diesem Werk zeigen können, es hätte jedenfalls bei der Orientierung geholfen. Die Orgel setzt im „Continuum“, dem zweiten Satz, den Rahmen für eine erneute, ausgebreitete Planetendarstellung und übernimmt schließlich selbst eine stark variierende, paraphrasierende Beschreibung der Planeten. Obwohl ohne Pause angeschlossen, ist im dritten Satz („Whirling Orbits“) völlig neues motivisches Material vorhanden – das quasi „Schweben im Orbit“ als eigenständiger Teil der Orgelvirtuosität. Darauf ändert sich plötzlich die Stimmung gänzlich; das „Gebet“ wird von schweren spätromantischen Streicherpartien im Stil Max Regers umschrieben, dazwischen hüpfen aber weiter die Gestirne oder laufen aufwärts und abwärts – so wie in den meisten Abschnitten zuvor. Am Ende ein Rundtanz („Round Dance“), ebenfalls eher spätromantisch als neutönerisch, mit nochmaliger Bühne aller Planeten vor einer alles dirigierenden Sonne. Ein kompositorisches Meisterwerk fürwahr – ob man es mag oder nicht; bei „Neuer Musik“ lohnt sich ein Streit, ob gut oder schlecht, kaum; vielmehr sollte man die Wirkung erspüren und feststellen, ob man etwas für sich darin entdecken kann. Das konnte ich in der Tat; am meisten beeindruckte mich Holloways Unbekümmertheit in der Freiheit seiner Ausarbeitung – Regeln und Normen werden nicht sonderlich ernstgenommen, kein Dogma, zum Glück! Und Bernhard Buttmann als Solist war die beste Auswahl, da er genau umsetzte, wie das Stück angelegt war – in virtuoser Perfektion. Man kann daher die NPW nur beglückwünschen: Sie haben sich den besten Auftragnehmer gesucht, den man sich hierfür nur vorstellen kann. So bekamen Dirigent, Solist und Komponist, der auch zum Ende auf der Bühne erschien, einen zurecht guten Applaus (bei leider großen Lücken im Auditorium).
Nach der Pause wurde dann Holsts „Die Planeten“ gespielt. Eckehard Stier musste noch einmal vor Beginn von der Bühne, um die richtige Partitur zu holen – er nahm’s mit Humor. Ähnlich wie Holloway, der astrologische und mythologische Aspekte für die Umschreibungen der Planeten benutzt hat (übrigens mit einem kleinen „Jupiter“-Zitat aus dem Holst-Werk), berücksichtigte Holst bei Titelgabe und Komposition die astrologisch-mythologische Bedeutung der Planeten. Trotzdem spiegelt sich in der Musik mehr – zumindest für einen Teil der Planeten eine angemessene gefühlsmäßige Deutung, die sich aus Anblick, Entfernung und Wissen der Planeten ergibt; und ein Mysterium, das aus der zunehmenden Entfernung von der Sonne und von uns herrührt: Für Saturn und Neptun vor allem hätte man sich keine besseren Themen wünschen können. Die Interpretation freilich überraschte: Der Mars als erster der behandelten Planeten kam vergleichsweise langsam daher, wenn man es vielen anderen Interpretationen gegenüber stellt. Dadurch ging meines Erachtens ein bisschen von der Unerbittlichkeit des kriegerischen Marsches verloren. Trotzdem war die Interpretation hoch beeindruckend. Dadurch, dass Eckehard Stier bei den meisten Sätzen die Geschwindigkeit im Vergleich zu den meisten Interpretationen herabsetzte, wurden musikalische Figuren sichtbar, die bei höherem Tempo eher untergingen. Schon aus dieser Sicht heraus hoch beeindruckend – und eben innovativ, was man kaum glauben mag! Beim „Jupiter“-Mittelteil, den wegen seiner wirklich schönen, starken Melodie patriotische Briten und die anglikanische Kirche mit Liedtext ausgegliedert haben („I Vow to Thee, My Country“), standen mir fast die Tränen in den Augen. Saturn und Neptun waren nicht minder beeindruckend. Der „Planeten-Projektchor“ hinter der Bühne tat sein Bestes, nachdem er anfangs schwer zu vernehmen war; sein langsames Verklingen erzielte letztlich aber den gewünschten Effekt.
Das Gesamtfazit kann wieder einmal nur lauten: Wer die NPW als „Provinzorchester“ abspeist, hat keine Ahnung und dieses Orchester noch nie gehört. Ein hoch professionelles Programm wurde von einem hoch professionellen Orchester in einer maximalen, unerhörten Qualität geboten; geleitet von einem ebensolchen Dirigenten, begleitet von einem ebensolchen Solisten.