von Dr. Götz Heinrich Loos
Kamen. Dass das Kamener Konzertpublikum zum Teil ausgesprochen konservativ ist, was die Komponisten- und Werkauswahl betrifft, ist bekannt – eigentlich ein eher kritisch zu bewertender Punkt. Allerdings war das 6. Sinfoniekonzert der Neuen Philharmonie Westfalen (Motto „Große Klassik(er)“) am Mittwochabend in der Konzertaula nun auch genau darauf zugeschnitten, dabei sehr erfolgreich: Lange Schlangen an der Abendkasse! Drei Klassiker mit drei großen Werken erwartete das Publikum: Beethoven mit der „Coriolan“-Ouvertüre c-moll op. 62, Mozart mit dem Konzert für Klavier und Orchester Nr. 17 G-Dur KV 453 sowie Haydn mit seiner Sinfonie Nr. 102 B-Dur Hob I:102. Dirigent und gleichzeitig Solist am Piano war der in Berlin lebende US-Amerikaner Ira Levin, der für ein breites Repertoire bekannt ist. Und er enttäuschte sein Publikum in keinster Weise. Auch das Orchester war fantastisch aufgestellt – in kleinerer, den Orchestern der Klassikzeit angemessener Besetzung – und mit einer Virtuosität in allen Belangen, die ihresgleichen weithin sucht. Kein Wunder, dass sowohl Ira Levin als Solist Zugaben geben musste und das Orchester am Ende auch nochmals den letzten Satz von Haydns Sinfonie wiederholte.
Die „Coriolan“-Ouvertüre beschreibt einen innerlich zerrissenen Menschen, was in der Musik sehr gut reflektiert wird. Beethovens Musik zeichnet dabei nicht einmal in extremer Weise eine tragische Figur nach, sondern er schlägt mit Wucht zu, in der Melodieführung so zerrissen wie Coriolan – und das auch in den leiseren Partien. Levin und das Orchester gingen hier mit einer gewissen Rohheit zu Werke, perfekt der Dramatik der Vorlage angepasst und das bisweilen hohe Tempo souverän beherrschend. Nicht anders die Haydn-Sinfonie: Für einen „Oldie“ komponierte Haydn hier sehr verspielt, dabei laut und schnell (so „aggressiv“, wie sie Robbins Landon nennt, erscheint sie allerdings nicht – aber Aggressionen haben Haydn ohnehin nicht gelegen...). Die Virtuosität des Orchesters wurde besonders im Presto-Finale deutlich: Die Geschwindigkeit wurde von allen Spielern problemlos gemeistert, vom gemäßigten Anfang über ein lieblich ruhiges Adagio, ein vergnügt-geschwindes Menuett bis hin zu einem schnellen Schlusssatz.
Zwischen beiden Werken setzte sich Ira Levin an den Flügel und dirigierte und spielte Mozarts 17. Klavierkonzert. Hier wie bei beiden anderen Werken (und den Zugaben) dirigierte und spielte Levin auswendig. Kritikerkolleginnen und -kollegen schätzen die Farbigkeit und Frische seines Ausdrucks; ja, genau das fand ich hier bestätigt: Keine überflüssigen Affekte, keine großen Eigenmächtigkeiten in der Interpretation – vielmehr eine frische Natürlichkeit in einem makellosen, temporeichen Spiel, aus dem deutlich wurde, wie notengenau er das Werk verinnerlicht hatte. Und ebenso schien sein Dirigat. Ebenfalls als Solist mit zwei Werken aus späteren Zeiten belegte Levin seine Fähigkeiten und das ganze Spektrum von mächtigen Gefühlsausbrüchen (bei Liszts „transzendentaler“ Etüde „Wilde Jagd“) bis zu verhaltenen Zärtlichkeiten (bei einem Nocturne von Chopin); dabei immer alles im Griff haltend, jedoch nicht verkrampft, sondern spielerisch leicht – und eben frisch und farbig.
Das Publikum wurde in keinster Weise enttäuscht und spendete Orchester und Ira Levin am Ende tosenden Applaus und stehende Optionen, wobei – dies sei schmunzelnd am Rande bemerkt – freilich eine Rolle spielt, dass Haydn seinen kräftigen, schnellen Schlusssatz genau auf eine derartige Reaktion hin komponiert hat. Er wäre aber ebenso von den Interpretierenden hier kaum enttäuscht worden.